Fachbereich 3

Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik


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Musik bezieht Stellung – Funktionalisierungen der Musik im 1. Weltkrieg

Detaillierte Kongressbeschreibung

Ziel des Kongresses ist die Aufarbeitung und Analyse der historischen Momente, sozialen Kontexte und künstlerischen Mittel, in denen und mit denen Musik und Musikleben Stellung bezogen zu den Ereignissen des Ersten Weltkriegs. Dabei ist das gesamte Spektrum von Funktionalisierungen – als Waffe, Tröster und Medium der Verarbeitung und des Gedenkens – darzustellen und abzuwägen. Gefragt wird einerseits, welche Veränderungen und neue Gestalten die Musik durch den Krieg erfahren hat, andererseits, welche Facetten des Krieges sich vorrangig oder nur durch die Musik erschließen lassen.
Die Struktur des Symposiums orientiert sich an den drei großen Funktionen, die Musik im Krieg – und nicht nur dort – erfüllt.
Im Krieg wird Musik zur Waffe. Sie wird missbraucht, um Schlagworte der Propaganda den Gehirnen der Massen einzubläuen. Sie macht Körper zu Gleichschrittmaschinen und Mitsingautomaten. Sie soll als kultureller Stacheldraht Frontverläufe markieren zwischen »Nationen« und »Kulturen« und anzeigen, wer Freund ist und wer Feind, wer gut ist und wer böse, kulturell erhaben oder primitiv.
Doch gleichzeitig tröstet sie auch, hilft dem Individuum, im Schützengraben als Mensch zu überleben. Sie bewahrt die Erinnerung an das Schöne, an Werte und das Wertvolle, an Normalität, Gefühle, Liebe, Glaube, Zuhause. Sie beschwört die Fundamente des Menschseins über die Frontverläufe hinweg. Und schließlich wird die Musik auch selbst zum Gefäß von Wahrnehmung, Reflexion und Erinnerung; konserviert in ihrer Form und ihren Kontexten den Schlachtenlärm, das Pathos des historischen Moments, die Schrecken des Krieges, die Trauer um die Toten, die Vision vom Frieden.

Kämpfen

Der Erste Weltkrieg kam auch in der Musik nicht unvorbereitet. Wie W. Lemmermann in seinem Buch Kriegserziehung im Kaiserreich nachweist, hat die deutsche Pädagogik bereits seit der Reichsgründung nicht nur die Verherrlichung des Kaiserpaares, sondern auch in immer deutlicheren Tönen ein Ideal des siegreich, für die Nation kämpfenden Soldaten vermittelt. Der Befreiungskrieg von 1813 und der Krieg gegen Frankreich 1870/71 wurden zu fundamentalen Gründungsmythen der jungen Nation erklärt. Lieder aus diesen Kriegen und Lieder über sie fanden in Schulliederbücher Eingang und wurden zu Kaisers Geburtstag und am Sedanstag gesungen. So verwundert es vielleicht nicht, dass – obwohl es zunächst keine einflussreichen Stellen für die Koordination von Propaganda gab – sich deutsche Komponisten, Texter und Verleger in großer Eile auf die Produktion kriegsverherrlichender und nationaler Lieder umstellten, wie Hofmeisters musikalisch-literarische Monatsberichte der erschienenen Musikalien deutlich machen. Bereits Tage nach der sogenannten Schlacht bei Tannenberg erschien eine große Anzahl von Liedern, die einen der drei an der Schlacht beteiligten Oberkommandierenden, Paul von Hindenburg, verherrlichen. Neben dem Notendruck, der sich durch technologische Veränderungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem preiswerten, für breite Bevölkerungsschichten zugänglichen Medium entwickelt hatte, wurde auch das junge Massenmedium der Bildpostkarte entsprechend beeinflusst. Interessanterweise verknüpfen diese Karten ihre visuelle Propaganda sehr häufig mit Zeilen bekannter Lieder und bilden nicht selten sogar Noten ab. Wie die junge Tonträgerindustrie auf den Krieg reagierte, ist bisher noch nicht untersucht.
In Deutschland, wie auch in anderen kriegsbeteiligten Staaten, wurde die Musik als nationales Symbol missbraucht. In der musikalischen Presse und Literatur spitzte sich der Streit um nationale Qualitäten von Musik stark zu. Das Werk Beethovens wurde zum Kulminationspunkt der Diskussion. So behauptete z.B. Heinrich Schenker, dass die Überlegenheit der Musik Beethovens ein Kennzeichen der Überlegenheit des deutschen Geistes sei. Romain Rolland dagegen vertrat die These von Beethovens allgemein menschlichen, übernationalen Qualitäten. Die englische Musical Times beschrieb den Komponisten nicht als Deutschen, sondern als einen Flamen, bzw. unterschied deutsche Komponisten wie Beethoven oder Wagner von preußischen wie Richard Strauss, die mit ihrer gewalthaltigen Musik den Krieg vorbereitet hätten. Immer wieder kann man in zeitgenössischen Quellen auch Stimmen hören, die den Krieg als Ende von kultureller Stagnation und Krise begrüßen. Die italienischen Futuristen verbreiteten bereits im September 1914 – also zu einer Zeit, in der Italien sich offiziell noch nicht auf die Seite der Alliierten geschlagen hatte – Flugblätter, auf denen dargestellt wird, wie der An sturm der progressiven Staaten die überkommene Dominanz deutsch-österreichischer Kultur hinwegfegt. Aber auch weniger ideologisch geprägte, besonnene Stimmen wie der englische Kritiker Ernest Newman erhofften sich zu Kriegsbeginn einen Aufbruch in eine neue Musik.

(Über-)Leben

Staunend standen 1914 Kritiker wie der Engländer Ernest Newman vor dem Phänomen einer Musik wie dem Schlager It’s a long way to Tipperary, die dem einfachen Menschen, den Massen, offenbar Trost, Ablenkung und Unterhaltung spendeten, und ihm wurde bewusst, dass die Musik im Kriegsalltag andere Bedürfnisse befriedigen muss als zu Friedenszeiten.
Welche Musik benutzten die Menschen, um ihrem Erleben des Krieges zu begegnen? Welche Funktion und welche Wirkung hatte Musik im Zusammenhang mit dem Kriegserlebnis? Sollte die Musik verdrängen oder trösten, der Trauer einen Rahmen geben oder den Mut zum Durchhalten stärken, eine emotionale Beziehung zur Heimat stiften oder der Verzweiflung über Leid und Verlust Ausdruck geben, die Würde der deutschen Kultur wach halten oder Zusammengehörigkeit erlebbar machen?
Es geht um Musik, die nicht verordnet war, sondern die die Menschen aus eigenen Stücken heranzogen, um auf das Kriegsgeschehen zu reagieren. Dazu gehören die Lieder und Musikstücke, die die Menschen im Krieg sangen, spielten, hörten oder in Erinnerung bewahrten. Das konnte in den Schützengräben und in den Lazaretten sein, im heimatlichen Haus, in der Geselligkeit, aber ebenso im Konzert oder schon auf der Schallplatte. Dazu gehört auch die Sehnsucht nach der reinen Kunst als einer Insel innerhalb der Kriegswirklichkeit.
Die Quellenlage, die zu Antworten auf die hier angesprochenen Fragen führt, ist sehr disparat. Man findet vereinzelte, aber wertvolle Aussagen in Kriegsbriefen, -tagebüchern, Erinnerungen und Autobiographien. Die fiktive Weltkriegsliteratur kann weitere Hinweise geben. Die Berichterstattung in der Presse läuft dagegen Gefahr, patriotisch gefärbt von der Realität abzuweichen. Die auszuwertenden Quellen und Archive und die heranzuziehenden Arbeitstechniken liegen abseits des Instrumentariums der Musikwissenschaft. Entsprechend ist die Unterstützung anderer Fachdisziplinen unverzichtbar.

Verarbeiten

Im gegenwärtigen Bewusstsein ist eine Verarbeitung des Ersten Weltkrieges in der Literatur und in der Bildenden Kunst durchaus präsent. Sofort lassen sich aus beiden künstlerischen Sphären Namen nennen, die bedeutende Werke dazu beigetragen haben (Remarque, Dix, Beckmann usw.). Demgegenüber scheint die Musik kaum einen Beitrag dazu geleistet zu haben. In vielen Darstellungen über Kunst und Kultur im Krieg spielt die Musik nahezu keine Rolle. Die Annahme, Musik habe keine Stellung bezogen, ist allerdings falsch und gründlich zu revidieren. Es gibt von vielen namhaften Komponisten schöpferische Beiträge zum Weltkrieg. Zu nennen sind beispielhaft Claude Debussy, Maurice Ravel, Camille Saint-Saens, Gabriel Fauré, Lili Boulanger, Edward Elgar, Charles Ives, Giacomo Puccini, Richard Strauss, Anton Webern, Alban Berg, Paul Hindemith, Franz Schreker, Erich Wolfgang Korngold, Franz Lehár, Hanns Eisler, Kurt Weill. Neben dem kompositorischen Eingehen gibt es verbale Äußerungen in Form von Manifesten, Vorworten usw. Die Werke entstanden während oder nach dem Krieg und beleuchten den Krieg in vielfältigen Facetten: Sie handeln von patriotischer Zustimmung, von den Schrecken des Krieges und von dezidierter Kriegskritik, von Frauenschicksalen und Kindesleid und von der allgemeinen Trauerstimmung der Zeit. Großteils wird der Krieg direkt benannt, aber es zeigen sich auch subtile Wahrnehmungen in allgemeiner ausgerichteten Werken. Die Kompositionen sind in der Öffentlichkeit weitestgehend nicht bekannt und musikwissenschaftlich nicht aufgearbeitet, etwa in Hinsicht der Semanteme des Krieges in der Musik.
Viele Bezüge zum Krieg sind noch gar nicht aufgedeckt. Während sich die Zusammenhänge in der wortgebundenen Musik aus Titeln und Texten erkennen lassen, sind Bezugnahmen in der Instrumentalmusik viel verborgener und nur durch genaues Studium der Partituren und Kenntnis des in jener Zeit benutzten Liedgutes zu ermitteln. So ist z.B. aus dem Titel von Debussys Klavierwerk En Blanc et Noir kein Bezug zum Krieg zu erkennen. Erst die Aufdeckung des Choralzitates Ein feste Burg und die verborgene Wahrnehmung der Marseillaise verweist auf den Krieg. Zusammenhänge dieser Art harren noch in vielfältiger Weise der Erforschung.
Die Erschließung sollte eher weniger auf Komponisten, Gruppierungen oder Länder zugeschnitten sein (»Hindemith und der Erste Weltkrieg«, »Die Wiener Schule ...«, »Französische Komponisten...«), sondern sich thematisch ausrichten. Mögliche Themen könnten sich mit der Darstellung der Kriegswirklichkeit oder der Schicksale von Frauen und Kindern in der Musik beschäftigen, mit der Faszination der Komponisten für die neuen Kriegstechniken wie dem Luftkampf und den neuen Waffen oder mit der Vertonung von Kriegsverdruss, Kriegskritik und Friedensvision.